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The Outrun - Schöner Entzug

Nora Fingscheidt inszeniert nach Systemsprenger erneut authentisch und hervorragend besetzt die Geschichte eines Härtefalls, der oft die Kontrolle über sich selbst verliert und auch anderen dabei schadet. Dieses Mal geht es um die Alkoholsucht einer jungen Erwachsenen, brillant gespielt von Saoirse Ronan. The Outrun ist mit seiner nicht-linearen Erzählweise jedoch nicht ganz so spannend und effektiv. Was nach dem Kinobesuch bleibt, sind am ehesten die sehr schönen Bilder vom Entzug auf schottischen Inseln.

Originalbild: The Outrun / © Studiocanal (2024)

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The Outrun - Schöner Entzug Daniel Pook

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Filmkritik aus dem Podcast als Text zum selber Lesen

Kann ein Film über Entzug und Alkoholkrankheit malerisch schön sein? The Outrun von Regisseurin Nora Fingscheidt schafft das.

Es ist die Verfilmung eines biografischen Romans von Journalistin Amy Liptrot, die auch mit am Drehbuch gearbeitet hat. In Vignetten erzählt dieser Film von der Alkoholsucht einer jungen Frau, Rona, gespielt von Saoirse Ronan die Liptrots fiktives Alter Ego aus ihrem Buch darstellt.

Zeitlich hin- und her springend, sehen wir sie mal als Studentin in London, wo ihr Leben im Partyrausch bunter Nachtclubs untergeht, sie zunehmend die Kontrolle über sich selbst verliert. Es ist die Zeit, in der sie schwer alkoholkrank wurde.

Mal sehen wir außerdem Rückblicke aus ihrer Kindheit, als ihr Bipolarer Vater und ihre immer gläubiger werdende Mutter ständig stritten.

In der Gegenwartsebene des Films ist Rona von London zu den schottischen Orkney-Inseln zurückgekehrt, wo ihre Eltern immer noch leben. Inzwischen allerdings getrennt. Rona hat ihre Sucht durch Reha und Selbsthilfegruppen bislang erfolgreich eingedämmt, dem Alkohol mit Anfang 30 endlich abgeschworen. Aber in der Vergangenheit hatte sie eben mehrmals auch schon Rückfälle.

Wir bekommen ein durchaus komplettes Bild von Ronas Entwicklung zur unzurechnungsfähigen Alkoholikerin. Und ebenso von ihrem Weg durch verschiedene Selbsthilfegruppen, zurück in ein Leben, das sie wieder ohne den Griff zur Flasche glücklich zu machen scheint.

Was in Ronas Vergangenheit liegt, ist als Erzählung jedoch nie interessant genug, als hätten wir es unbedingt so ausführlich sehen müssen. Es sind die üblichen Partyszenen, die zu erwartenden Beziehungsprobleme, die Reha-Versuche, Besuche bei den Anonymen Alkoholikern und Gefahrensituationen, die wir in Filmen über Menschen mit Suchtproblemen meistens gezeigt bekommen. Hier fehlt das dramaturgisch Besondere.

Die Rückblicke berauben die Gegenwart um jedes Mysterium und die Gegenwart nimmt den Rückblicken schon vorweg, dass Rona in brenzligen Situationen nichts sehr schlimmes passieren wird, es ihr später wieder viel besser geht. Wie ich es drehe oder wende, die gewählte Erzählweise hat für jeden Aspekt der Geschichte bloß Nachteile. Und nimmt, wie gesagt, jede Spannung raus.

Zumal mich Ronas Leben in der Gegenwart immer deutlich mehr interessiert hat. Ich hätte es mir spannender vorgestellt, nur bei ihrem neuerlichen Einleben und Anbandeln nahe an Rona dran zu bleiben, ohne genau zu wissen weshalb sie so ist wie sie ist und andere auf der Insel so auf sie reagieren, wie sie reagieren.

Die Geburt eines kleinen Lamms. Ronas Vater, der ihr von einem wertvollen Ambra-Fund am Strand erzählt. Ronas Gespräche mit Farmern, die Rona für ihr Naturschutzprojekt über Wachtelkönig-Vögel aufklärt. Oder nur der kurze Plausch mit einem Dorfjungen, den sie nach Feuer für ihre Zigarette fragt. Das sind die Szenen in The Outrun, die ich geliebt habe. Die ich gerne, selbst ohne richtige Geschichte, den ganzen Film lang gesehen hätte.

Dass Rona eine sich erholende Alkoholikerin ist, gerade mit ihrer Familie viel Vorgeschichte hat, hätte immer noch Herzstück des Films bleiben können. Wir hätten es nach und nach erfahren, sie dann immer besser verstehen und uns in sie reinversetzen können. Während wir aber eben im Vordergrund das Leben auf den Orkney-Inseln kennenlernen, von örtlichen Mythen erfahren, nicht zuletzt die Landschaft genießen.

Die schottische Naturkulisse hat Kameramann Yunus Roy Imer bemerkenswert schön eingefangen. Es ist einer dieser Filme, bei dem ich die steife Meeresluft förmlich riechen und beinahe auf meiner bleichen Stadtmenschenhaut spüren könnte.

Ob Graslandschaften im Wind oder die Begegnung mit Seehunden im weiten, blauen Meer. The Outrun zeigt eine unwiderstehliche Balance aus authentischem Look und doch auch kunstvollem Gesamtbild. Wie Nora Fingscheidt in einem Making of verraten hat, sehen wir Szenen auf den Inseln anfangs bewusst unterkühlt trist, während Erinnerungen ans Londoner Partyleben in bunte, lebendige Farben gehüllt erscheinen.

Im Verlauf des Films wechselt dies jedoch, wenn ihre Erinnerungen an schlechtere Erlebnisse in den Vordergrund rücken, plötzlich dort eine beinahe hässliche Neutralität einkehrt, die Landschaften der schottischen Inseln in der Gegenwart hingegen ihre Farben zurückerhalten, der oft grau bewölkte Himmel ein wenig türkis angehauchte, malerisch wirkende Optik verpasst bekommt.

Nichts von dem wirkt wie ein Instagram-Filter. Es handelt sich um feine, aber effektive Nuancen. Kontrast und Farben sehen grundsätzlich realitätsnahe aus, sind aber gerade so betont oder gedämpft worden, dass dennoch nie der Eindruck einer nüchtern gefilmten Dokumentation entsteht. Statt dessen dominiert der softe, ausgeglichene Qualitätslook heutiger Cinema-Cameras mit Objektiven, durch die alles ohnehin immer sehr detailreich, lebensnah und doch filmisch weich aussieht. So gekonnt wie hier eingesetzt, auf fotorealistische Art kunstvoll.

Viele Shots lassen unsere Kamera Verfolger oder Beobachter mittendrin sein, die sich wie eine Person mit Eigenleben bewegt. Deren Blick immer mal suggestiv dorthin wandert, wo gerade etwas interessantes passiert. Wir sollen die Orte spüren, um auch Ronas empfinden der Situationen besser mitfühlen zu können. Denn wenn es hier um eine Sache zweifelsohne am meisten geht, dann um Empathie für die Protagonistin beim Kampf gegen ihre Alkoholsucht und ein Verständnis für alles, was dabei auf sie einwirkt.

Wer einmal richtig Alkoholsüchtig war, wird den Drang zu trinken normalerweise ein Leben lang nicht los. Wie sich das genau anfühlt, wenn der Körper ganz plötzlich glaubt, unbedingt Alkohol zu brauchen, selbst wenn man dagegen ankämpft, beschreibt uns Ronas innere Stimme im Film. Solche Monologszenen, sind die besten Momente von The Outrun.

In ihnen zitiert Rona mehrmals Gedichte und Geschichten aus Mythen über die Inseln und schottischer Folklore. Sie stehen als Metaphern für Ihr Zurückfinden zu sich selbst und auch die Herausforderungen ihrer Alkoholkrankheit, ihren Kampf dagegen. Beinahe traumartig werden diese Momente von Natursequenzen - wie Unterwasseraufnahmen - begleitet. Am einprägsamsten ist hier Ronas wiederholte Beschreibungen ihres Körpers als Kontinent.

Saoirse Ronan spricht und spielt das gewohnt Oscar-würdig. Überhaupt zeichnet sich das Ensemble unter Regie von Nora Fingscheidt, wie schon bei ihrem hervorragenden Erfolgsfilm Systemsprenger, durch natürliche, glaubhafte Darbietungen gut geschriebener Charaktere aus. Falls in Nebenrollen nicht sogar einfach Menschen nur sich selbst spielen, die eigentlich keine Schauspieler*innen sind. Was ich sofort glauben würde. Entweder das, oder die Authentizität der Figuren ist derart hoch, dass es überzeugender gar nicht ginge.

Der Titel The Outrun bezieht sich direkt auf das Weideland der Inseln. Outrun bedeutet aber auch, jemanden oder etwas einzuholen beziehungsweise vor etwas davonzulaufen. Und genau das ist dieser ganze Film auf Handlungsebene. Ein Davonlaufen vor der Sucht, aber auch ein wiederholtes eingeholt werden von eben dieser. In einem dieser beiden Zustände, dem Hinterherlaufen oder dem Davonlaufen, finden sich Suchtkranke meist für den Rest ihres Lebens wieder.

Dass ausgerechnet ein vom Aussterben bedrohter Wachtelkönig-Vogel den Schlusspunkt des Films setzt, unterstreicht die stets präsente Meta-Ebene. Eine Analogie zwischen dem zerstörerischen Einfluss von Menschen auf die Erde und Ronas Schäden am eigenen Körper, durch den jahrelangen Alkoholmissbrauch.

Mit der Hoffnungsvollen Botschaft, dass destruktive Prozesse noch umgekehrt werden und Körper oder biologische Systeme sich wieder erholen können, sofern der Point-of-No-Return noch nicht erreicht ist und man alle Anstrengungen für Heilung kompromisslos unternimmt.

Diese positive Botschaft ist zwar wünschenswert, genau wie Ronas neu hergestellte Verbundenheit zur Natur und ihrer Heimat. Dennoch gibt's drumherum zu wenig erzählerische Substanz für knapp zwei Stunden Film. Nach zirka einem Drittel ist mir The Outrun in all seiner Schönheit etwas langweilig geworden. Zwar bleibt das Drama eine glaubwürdige, persönliche Biografie-Erzählung mit wunderbaren Bildern und hervorragend spielenden Darsteller*innen, doch es fehlt jener Funke, der über die bloße Schilderung der bekannten Suchtstationen hinaus, nachhaltig an diesen Film erinnern lässt.

Autor: Daniel Pook


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Dieser Podcast wurde von Daniel Pook in unserem Berliner Studio aufgenommen.